Inhaltswarnung: psychische Gewalt
Ein trockener Wald, durchdrungen von Brandschwaden. Am Himmel türmen sich graue Wolken, die Luft ist trübe und drückend heiß. Es riecht nach brennendem Holz. Inmitten dieser Hitze: ein Kind. Es trägt nur einen Schuh, der andere ist ihm unmerklich vom Fuß gerutscht. Die Mutter ist in dieser Szene abwesend. Vielleicht fährt sie in einem Auto ziellos umher. Vielleicht geht sie zu Fuß die leere Landstraße entlang, auf der sie einige Tage zuvor gemeinsam mit ihrem Kind in diesen Ort kam, in dem schon seit Monaten der Wald brennt.
Bad Heim heißt dieser fiktive Ort, der in Franziska Gänslers atmosphärisch dichtem Debut-Roman „Ewig Sommer“ den Hauptschauplatz des Geschehens darstellt. Dort betreibt Iris, die Ich-Erzählerin des Romans, ein vom Großvater geerbtes Kurhotel. Kurgäst*innen hat sie seit langer Zeit nicht mehr empfangen, denn der Sommer hält schon zu lange an und die Waldbrände als Konsequenzen der voranschreitenden Klimakatastrophe bestimmen den Alltag. Eine App informiert die wenigen Einheimischen, die geblieben sind, über die Luftqualität. Leuchtet die App gelb, darf das Haus nur mit Schutzmaske verlassen werden, Fenster und Türen sollen geschlossen bleiben. Leuchtet sie orange, besteht akute Gefahr, denn dann ist der Schwefelgehalt in der Luft zu hoch und das Haus soll gar nicht mehr verlassen werden. Wenn die App rot aufleuchtet, wird der Ort evakuiert.
Was für einen kurzen Moment wie eine Dystopie wirkt, kommt unserer Realität mittlerweile sehr nahe. In Deutschland brannten in diesem Sommer wegen andauernder Hitze und Trockenheit mehr als doppelt so viele Wälder wie noch im Vorjahr. In anderen Regionen der Welt ist diese Form der Folgen des Klimawandels schon länger sichtbar: Beispielsweise sind laut WWF bereits mehr als 20 Prozent des ursprünglichen Amazonas-Regenwaldes zerstört und auf dem afrikanischen Kontinent brennen pro Jahr ungefähr 300 Millionen Hektar Wald ab. Doch Gänslers Text ausschließlich als Klimaroman zu bezeichnen, greift zu kurz.
Im Gefahrengebiet
Gänslers Protagonistin Iris zeichnet sich durch eine genaue und empfindsame Beobachtungsgabe aus, mit der sie sich durch diese anhaltende Gefahrensituation bewegt. Sie nimmt die subtilen Veränderungen der Umwelt akribisch genau wahr. Ihren Alltag versucht sie zu strukturieren, indem sie das Hotel in Stand hält und die von der Hitze verursachten Schäden behebt. Oder sie liegt rauchend in einem Liegestuhl im Garten, schaut in den Himmel und hängt ihren Gedanken nach. Kontakt zu anderen Menschen hat sie kaum. In dieser nur vordergründigen Normalität, die sie ihre „kleine Welt“ nennt, hört sie nicht auf, ein Ende der Brände herbeizusehnen: „Jeden Tag die Hoffnung auf Wolken, auf Regen. Jeden Tag das immer noch nicht. Jeden Tag das irgendwann muss es brechen, wird es brechen. Warten.“
Auch Mutter und Kind, die sich bei ihrer Ankunft in der Eingangshalle des Hotels als Dori und Ilya vorstellen und nach einem freien Zimmer fragen, beobachtet Iris genau. Sie studiert die Bewegungen und Mimik der geheimnisvollen Dori, nimmt ihre Nervosität und Anspannung wahr. Außerdem fällt Iris auf, dass Dori kaum auf ihre Tochter eingeht. In diesen Beobachtungen erkennt Iris eine Ähnlichkeit zwischen Dori und der eigenen Mutter, die für den weiteren Verlauf des Romans wegweisend ist. Sie stellt sich die Frage, was die beiden an diesen Ort bringt und ihr ist klar: „Irgendetwas fürchtete sie, irgendetwas fürchtete sie mehr als den Brand und die schlechte Luft.“
In ausgewählten, wohl überlegten Szenen offenbart sich der Grund für Doris und Ilyas Auftauchen: Dori ist mit der gemeinsamen Tochter vor ihrem gewaltbereiten Ehemann geflohen.
Geteilte Erfahrungen
Gänsler beschreibt eine missbräuchliche Beziehung und die typischen Folgen verbaler Gewalt, die durch Gaslighting, Beleidigungen, Herabwürdigungen und manipulatives Verhalten ausgeübt wird und deren Ziel es ist, Kontrolle und Macht über einen anderen Menschen zu erlangen. Dies zeichnet sie durch die Perspektive der Betroffenen, der Figur Dori, die der eigenen Wahrnehmung nicht mehr vertraut, und gibt dem Täter, der im Roman Alexander Vargas heißt, nur wenig Raum. Ein paar Mal ruft er bei Iris im Hotel an und berichtet von seiner kranken Frau, die mit dem gemeinsamen Kind abgehauen sei. Er erschafft das Bild einer verwirrten Person, die sich nicht um das gemeinsame Kind kümmern kann. Zunächst fragt sich Iris, ob sie ihm glauben soll, doch im Gespräch mit dem Ehemann nimmt die Erinnerung an die eigene Kindheit Form an und Iris erkennt ein ihr bekanntes Muster: „Natürlich hatte ich kein Wissen über die Ehe dieser beiden Menschen, aber etwas im Ton des Mannes war mir unangenehm vertraut. Diese Überlegenheit, diese Haltung, er könne die Realität, das Befinden besser einschätzen als sie selbst. Der Versuch, mein Bild von Dori zu färben, obwohl ich eine völlig fremde Person war. Es fühlte sich falsch an, nach einer Manipulation.“ Iris‘ Erinnerungen an ihre Kindheit und die Besuche beim Großvater in Bad Heim sind geprägt von dessen Übergriffen und so ergibt sich eine weitere Parallelisierung zwischen zwei Figuren: Iris und Ilya. In Iris finden Dori und Ilya eine Mitwisserin und Verbündete im Kampf gegen die patriarchale Gewalt.
Die Möglichkeit auf ein anderes Leben
Nach und nach bekommt Doris geheimnisvolle Fassade Risse und sie beginnt, sich Iris anzuvertrauen. Sie zeigt ihr eine der 283 Sprachnachrichten, die Alexander Vargas seit ihrem Verschwinden geschickt hat: „Er benannte Fehltritt nach Fehltritt. Ihre Charakterlosigkeit, ihre Schwäche und immer wieder: das Trauma, das endlose, unüberwindbare Leid, das sie der gemeinsamen Tochter antat.“ In der geteilten Erfahrung kommen sich Iris und Dori langsam näher. Die omnipräsenten Bedrohungen, denen die beiden Frauen ausgesetzt sind, kontrastiert Gänsler mit der aufkeimenden Hoffnung auf ein anderes Leben. Für eine kurze Zeit gibt es eine Perspektive, einen gemeinsamen Blick in die Zukunft. Doch die Konsequenzen der Manipulation sind zu stark.
Gänsler macht in „Ewig Sommer“ deutlich, dass häusliche Gewalt nicht nur auf physische Weise stattfindet. Sie schafft ein Abbild der Spirale rund um psychische Gewalt und zeigt, wie schwierig es für Betroffene wie auch außenstehende Personen ist, diese Art der unsichtbaren Gewalt zu erkennen. In der erzählerischen Parallelführung zur Bedrohung durch die Klimakatastrophe gelingt es Gänsler, die Dimension der psychischen Gewalt für Lesende einfühlsam greifbar zu machen. Doris und Iris‘ aufflackernde Verbundenheit im Kampf gegen das Patriarchat schenkt Hoffnung und betont, wie wichtig es ist, sich als Betroffene*r anderen Menschen anzuvertrauen – Menschen, die einem glauben.